Gletscher-Grundkurs Tierberglihütte – 22.08. – 26.08.2012
Gletscherkurs Tierberglihütte als PDF mit Bildern!
Erst war da dieser Klettersteig. Für uns jedenfalls fing es damit an. Denn wer die Marmolada auf dem Westgrat-Klettersteig korrekt überschreiten will, der landet spätestens im Abstieg auf dem Eis. Und wer sich auf einem echten Gletscher herumtreibt, der sollte wissen, was er tut. Also musste ein Gletscherkurs her. Nur woher nehmen? Die Saison war fast durch, die Kurse gelaufen oder ausgebucht, und wir hatten schon fast resigniert, als Google uns zur DAV-Sektion Jena führt: ein Gletscherkurs Ende August, durchgeführt in Kooperation mit dem Bergsportverein Jena. Das würde passen, und fragen kostet ja nichts. „Kein Problem“ schreibt Matze zurück, gerne können wir mitkommen, Plätze gibt es noch, und Mitglieder anderer Sektionen sind auch willkommen. So schnell haben wir ein Blind Date auf der Tierberglihütte, mitten in der Schweiz. Jetzt noch fix die Ausrüstung
aufstocken. Steigeisen mit zwölf Zacken? Ich zähle bei meinen neun (ja, neun!). Der hochtourenerfahrene Verkäufer im Alpinsportgeschäft bestätigt, dass drei Zacken entscheidend sind. Also gut. Ein Pickel findet sich zum Glück zuhause noch, es kann also losgehen. Mit Julia zusammen geht’s von Nürnberg aus in die Berge. Mal sehen, was uns erwartet.
Zunächst ist es die Schweizer Armee. Eben hatten wir den Sustenpass bezwungen und dem Automaten ein Parkticket mit Straßenbenutzungsrecht nach Umpol abgerungen, schon fahren wir durch Kolonnen von Armeelastern und gepanzerten Geländewagen.
Sind wir auf einem Truppenstützpunkt gelandet? Gerade wollen wir umkehren, da
erspähen wir ein Auto mit Jenaer Kennzeichen auf dem Parkplatz, und zwei Gestalten mit riesigen, bunten Rucksäcken ziehen gemächlich über den Gletscherbach hinweg in Richtung Aufstiegsweg. Das macht uns Mut zu bleiben. Ein Zettel an einer Wegetafel
klärt auf: Achtung, Schießübungen! Es wird scharf geschossen, Betreten des Übungsgeländes auf eigene Gefahr. Die rote Linie auf der abgedruckten Karte umreißt exakt unser Tourengebiet. Kritisch beäuge ich meinen neuen Helm aus bruchstabilem Kunststoff bevor ich ihn doch in den Rucksack packe. Beim Aufsetzen des Gepäcks entscheiden wir uns spontan, den Klettersteig zur Hütte auszulassen und den normalen Aufstiegsweg zu nehmen. So ziehen wir unter dem Dauerfeuer der Schweizer Infanterie auf den Rücken des Tierbergli hinauf.
Gut zwei Stunden später ist das Gewehrfeuer in den Hintergrund gerückt und wir stehen vor der Tierberglihütte (2.795m), die von einem eindrucksvollen Gletscherpanorama umgeben ist. Sehr freundlich werden wir aufgenommen. Die beiden Gestalten mit den Riesenrucksäcken vom Parkplatz stellen sich als Matze und Steffen vor. Willi und Peter treffen pünktlich zum Abendessen ein, damit sind wir vollzählig. Die Vorstellungsrunde macht uns klar, dass wir die beiden einzigen echten Teilnehmer sind, denn Peter und Steffen haben schon Hochtourenerfahrung. Wir freuen uns über das erstklassige Betreuungsverhältnis: Zwei Ausbilder und zwei Hilfsausbilder für zwei Teilnehmer – wo
Das Tourengebiet von der Passstraße aus. Die Tierberglihütte sitzt auf dem schwarzen Felsrücken in der Bildmitte, dahinter das Gwächtenhorn. bekommt man so etwas schon
geboten? Nach dem vorzüglichen Abendessen (Älplermakkaroni mit Apfelmus) gibt es noch Anseiltheorie, dann geht es ab ins Lager. Morgen wartet der Gletscher.
Der Donnerstag beginnt sonnig. Wir gehen die 50 Meter zum Gletscherrand und legen die Ausrüstung an. Es dauert noch etwas bis die Eisen sitzen und erste Stiche in die Finger
bleiben nicht aus, doch schon hängen wir am Seil und die Karawane marschiert los. Ziel ist der vordere Tierberg (3.091m), unschwierig und in eineinhalb Stunden zu erreichen. Das Gehen lernen wir recht schnell, den Pickel immer zur Bergseite, halt, schon wieder Schlappseil zum Vordermann, ist doch gar nicht so leicht, auf alles zu achten. Die erste Gletscherspalte wird erreicht. Stolze 20cm breit und endlos tief scheint sie uns den Weiterweg zu versperren und muss mit einem beherzten Schritt gequert werden. Wir meistern die Aufgabe heldenhaft und ohne Sturz. Puh. Weiter geht es etwas steiler zum Gipfelfels, der mit einfachster Kletterei überwunden wird, und schon stehen wir oben und blicken hinab ins Tal des Triftgletschers. Weiter entfernt reihen sich Eiger, Mönch und
Jungfrau auf, davor die diversen Aar- und sonstigen Hörner des Berner Oberlandes. Großartig! Zurück geht es den gleichen Weg, die Spalte erscheint schon kleiner
und bald sind wir wieder auf der gemütlichen Tierberglihütte. Da bleibt noch genug Zeit für Spaltenbergungsübungen, zuerst im trockenen Fels, und dann auf dem Gletscher. Der ist nach Tagen mit Frostgrenzen bei über 4.000 Metern allerdings reichlich feucht, ganze Bäche ergießen sich in jede geeignete Spalte, also wird der Sturz kurzerhand mit gemeinschaftlichem Zug am „Opfer“ simuliert.
Der Freitag beginnt früh um 5 Uhr. Nach einem Frühstück mit reichlich Kaffee betreten wir gegen 6 Uhr den Gletscher mit Ziel Sustenhorn (3.503m). Zwei weitere Seilschaften sind unterwegs. Der Weg sorgte bereits am Vortag für Stirnrunzeln: Wo man normalerweise einfach auf schönen Firnfeldern in Richtung Sustenlimi hinauf steigt klafft ein Spaltenfeld. Da müssen wir wohl durch. Die Steigspuren verlieren sich schnell, und bald stehen wir in einem Labyrinth aus Spalten und Eisrippen. War das gestern eine Spalte auf dem Weg? Der kleine Kratzer im Firn? Erst zaghaft, dann zunehmend mutiger steigen wir über schrittweite Abgründe. Der ist zu breit? Kein Problem! Ein großer Ausfallschritt, den die Tierberglihütte (2.795m) – unser „Basislager“ Die erste Spaltenquerung – man beachte den gähnenden Abgrund! Pickel drüben ordentlich einhauen und kräftig ziehen, schon stehen wir auf der anderen Seite. Bald fühlt es sich an, als hätten wir nie etwas anderes getan. Und manchmal hilft ein kleiner Ruck am Seil beim entschlossenen Überschreiten allzu breiter Unebenheiten. Als wir das Spaltenfeld verlassen steht am Himmel eine schwarze Wolkenwand im Westen. Der Wind frischt deutlich auf, dunkle Wolkenfetzen ziehen über uns hinweg, von der Sonne ist nichts mehr zu sehen. Die übliche Diskussion
verläuft zwischen „gleich stehen wir hier im Schneesturm, wir müssen runter“ und „zwei Tropfen Regen halten doch einen Bergsteiger nicht auf“. Die Kursleiter entscheiden mit Rücksicht auf die Wetterskeptiker auf Abbruch. Willi findet mit dem Überblick von oben einen schnelleren Weg zurück, auch die anderen Seilschaften drehen um und wir treffen bei der Hütte alle wieder aufeinander. Der weitere Verlauf des Tages bringt nur wenig Regen, dafür eindrucksvolle Wolkenbilder und heftigen Wind. Die Unwetterzone zieht aber nordwestlich vorbei. Das gibt uns die Möglichkeit, am Nachmittag noch etwas Selbstrettung mit Prusik und Selbstflaschenzug zu üben. Die Feuerleiter an der Hütte eignet sich dafür hervorragend.
Am Samstag soll es nun aber soweit sein: Das Sustenhorn will bezwungen werden. Doch der Tag empfängt uns wenig freundlich. Nebel und Regen! Die Wettervorhersage scheint sich zu bestätigen. Etwas unmotiviert schlürfen wir Kaffee und warten. Dann, nach einer Stunde zeigen sich zwischen den Regenwolken zaghaft erste Sonnenstrahlen. Helen, die Hüttenwirtin, ermutigt uns: Das Wetterradar zeigt keine Niederschläge in den nächsten Stunden, wir haben wohl ein Zeitfenster bis frühen Nachmittag. Also geht es los. Julia entscheidet sich, auf der Hütte zu bleiben, das Knie funktioniert nach einer Verletzung noch nicht so ganz und sie will uns nicht aufhalten. Wir machen uns also zu fünft auf den Weg. Willi sucht eine neue Route durch die untere Spaltenzone, tritt vorsichtig an einen
Spaltenrand heran – und plötzlich ist nur noch sein Kopf zu sehen: Er steckt bis zu den Schultern in einer Firnwächte! Als er sich heraus stemmt, befördert ihn der Mannschaftszug prompt zurück auf die Ausgangsseite. Da wollte er zwar nicht hin, aber immerhin sitzt er wieder auf festem Eis. Der nächste Überschreitungsversuch gelingt, den Geschwindigkeitsrekord um Feuerleiterprusiken hält eindeutig Matze das Sustenhorn (3.503m) links mit Aufstiegsweg von der Tierberglihütte wir steigen höher und durchqueren die obere Spaltenzone. Hier ist das Verhältnis irgendwie verdreht: Es ist nicht Eis mit Spalten, sondern es sind Spalten mit dünnen Eisstegen dazwischen, auf denen wir vorsichtig hin und her balancieren, immer auf der Suche nach dem nächsten Übergang.
Einmal geht es nicht weiter, und die Eisrippe ist so schmal, dass wir nicht aneinander vorbei gehen können. Also dreht sich jeder um und es geht in anderer Reihenfolge wieder zurück. Jetzt führt Matze. Von unserem Wendepunkt konnten wir etwas Übersicht gewinnen, und so bezwingen wir das Spaltenfeld im scharfen Zick-Zack und betreten einen weiten Kessel mit weichem Firn. Auf der anderen Seite präsentiert sich der Gipfelaufbau des Sustenhorns: Eine Rampe aus blankem Eis, zwischen 30° und 40° geneigt, über etwa 200 Höhenmeter. Irgendwie bin ich mir sicher, dass beim Näherkommen ein Firngrat erscheinen wird, der uns komfortabel und weniger steil hinauf führt. Wir queren den Kessel in einem weiten Bogen und kommen schnell näher, nur der Firngrat zeigt sich nicht. Dafür eine große Spalte, die den unteren Rand der Eisrampe vom Firnfeld des Kessels trennt. Lange ziehen wir an ihr entlang, bis sich ein geeigneter Übergang findet. Die Mitreißgefahr wird diskutiert. Wir sind uns einig, dass sie vorhanden ist, doch die Eisrampe führt nicht direkt in den Abgrund, und so bleibt das Seil dran. Mir gibt das die nötige Sicherheit, den bezackten Fuß auf die blau schimmernde Fläche zu setzen. Ich erwarte ein Abrutschen, doch er hält. Wir gehen geradewegs aufwärts, viel Zeit zum Überlegen bleibt nicht, das Seil strafft sich, nächster Schritt. Nach ein paar Metern geht es wie von selbst. Den Fuß beherzt aufsetzen, 12 Zacken bohren sich klirrend in den
Untergrund, kleine Eissplitter stieben davon – es ist eine wahre Freude! Mal mit Frontalschritt, mal im Seitschritt geht es höher, nur die Luft wird langsam dünn, aber schon queren wir hinüber zum Gipfel. 20 Meter Fels müssen noch erklommen werden, dann stehen wir oben. Geschafft! Trotz nicht optimaler Bedingungen. Leider ohne die versprochene Aussicht, denn gerade ziehen tiefe Wolken durch, doch das Wetter ist im Allgemeinen erstaunlich gut.
Ohne Fernsicht verlassen wir den Gipfel recht schnell wieder. Jetzt geht es die Eisrampe hinunter. Auch das funktioniert nach einigen Schritten Gewöhnung recht gut. Als wir vorhin unten standen, hätte ich das nicht geglaubt. Mit der Übersicht von oben entscheidet
sich Willi für einen direkten Weg zurück zur Hütte, die fast immer in Sicht bleibt. Wir verlassen unseren Aufstiegsweg und queren auf die andere Seite der Eisrampe zu einem Felsriegel. Hier gibt es eine kurze Pause. Inzwischen scheint die Sonne, es ist herrliches Wetter. Der Randspalt wird abenteuerlich überschritten. Ich übe mich im Steileisklettern über einen ganzen Meter und fühle mich prächtig dabei. Wo ist der nächste gefrorene Wasserfall?
Munter ziehen wir über das sonnige Firnfeld zur oberen Spaltenzone. Willi quert beherzt die ersten Abgründe, ich folge seinen Tritten, doch plötzlich ist da nichts mehr. Mein Bein ist verschwunden, eingebrochen. Ein armdicker Firnriegel hält mich noch am oberen Spaltenrand, aber ich schaue direkt in die Tiefe. Mit beruhigendem Seilzug von hinten stemme ich mich aus dem Loch, der Firnriegel hält, Willi mustert das untere Spaltenfeld – gibt’s nicht noch einen anderen Weg? und so kann ich mit Hilfe des Pickels gleich auf die andere Seite spreizen. Diese Übungseinheit hätten wir also auch erledigt. Es geht weiter. Julia erwartet uns vor der Hütte, die meiste Zeit konnte sie uns beobachten. Bei strahlendem Sonnenschein genießen wir den Gipfelerfolg auf der Hüttenterrasse, die das erste Mal seit unserer Ankunft recht voll ist: Wochenende! Einige Gruppen Schweizer sind da, wollen auch auf den Gletscher, morgen. Wir feiern unseren Abschlussabend, draußen wird das Wetter schlecht, es regnet, aber das stört uns jetzt überhaupt nicht mehr.
Am Sonntag dürfen wir ausschlafen. Bis 7 Uhr! Wir packen und gehen frühstücken. Die Schweizer sind alle noch da, denn das Wetter ist nicht besser. Es ist komplett zugezogen und feucht, aber wir müssen nur noch runter. Als wir die Hütte verlassen, setzt Schneeregen ein. Der Abstieg über die nassen Felsen ist heikel, aber bis auf kleinere Ausrutscher kommen wir gut durch. Durch den schweren grauen Nebel hallen Schüsse, die Schweizer Armee übt wohl immer noch. Langsam wird es lauter. Ich muss an unser nächstes Ziel denken: die Marmolada. Im Ersten Weltkrieg wurde dort erbittert um einzelne Gipfel und Scharten gekämpft, Österreicher gegen Italiener. Sommer und Winter, bei Sonne, Sturm, Regen und Schnee. Viele Steige sind auf alten Kriegspfaden angelegt. Wir dagegen dürfen zum Spaß in die Berge.
Am Parkplatz verabschieden wir uns. Die warme Dusche zuhause ruft. Am Hotel Steingletscher geht es auf die Passstraße. Ein letzter Blick zurück in das wolkenverhangene Tourengebiet, dann kommt der Sustenpass – und plötzlich scheint die Sonne. Wie gut sich das anfühlt! Und wie viel Glück wir hatten mit dem Wetter gestern! Nur langsam finden wir in die Welt zurück. Es ist der 5. Tag seit
Mittwoch, aber wir müssen Wochen weg gewesen sein. Was haben wir alles gelernt? Klar, Spaltenbergung, lose Rolle, Selbstrettung, Gehen am Seil usw. Aber irgendwas hat sich verändert. Das unruhige Kribbeln beim Anblick der Gletscher auf der Hinfahrt ist souveräner Gelassenheit gewichen. Ich schaue aus dem Fenster, Bäche fließen ins Tal durch herrlich grüne Almwiesen, und langsam wird mir klar, dass wir viel mehr gelernt haben: Wir sind jetzt (kleine) Hochtourengeher! Das fühlt sich ernsthaft und gut an. Die nächsten Gipfel warten schon auf uns!
Wir danken unseren Ausbildern Willi und Matze, den Hilfsausbildern Peter und Steffen und dem Team der Tierberglihütte herzlich für die erlebnis- und lehrreichen Tage. Schön, dass ihr uns mit- und aufgenommen habt. Wir freuen uns schon auf den Gletscher-Fortschrittskurs!
Mathias und Julia
Epilog: Inzwischen ist auch die Marmolada bezwungen, samt Gletscher. Von Vielen wird er als leicht beschrieben, und oft wird er sogar ohne Ausrüstung begangen. Uns präsentierte er sich aper, stellenweise 40° steil, und mit einigen spektakulären Spaltenquerungen. Ohne Ausrüstung keine Chance. Und ohne den Kurs hätten wir wohl umgedreht. Als wir unten ankamen freute sich der Wirt der Capanna al Ghiaccio angesichts unserer vorbildlichen Ausrüstung: 15 Spaltenstürze hat es dieses Jahr hier schon gegeben – alle ohne entsprechende Gletscherausrüstung. So ganz ohne erfahrenen Bergführer war es für uns zwar spannend, aber wir wussten was zu tun war und sind sicher wieder herunter gekommen. Dafür nochmal vielen Dank!
Text und Bilder: Mathias Besser, DAV Sektion Noris
Tourenleitung: Willi Dröge, BSV Jena und Matthias Guntau, DAV Sektion Jena